Ein Beispiel: Geschwister im Unternehmercoaching.

Diese Frage wird mir von Inhabern kleiner und mittelständischer Unternehmen recht oft gestellt, wenn ich mich als Coach für Familienunternehmen und Unternehmerfamilien vorstelle. Der Deutsche Verband für Coaching und Training sagt: „Coaching ist eine Dienstleistung für Menschen mit Veränderungswunsch…“ Wie das in der Praxis aussehen kann, schildere ich in diesem Beispiel.

Jens und Dirk leiten gemeinsam den Handwerksbetrieb, den sie vor einem Jahr von ihrem Vater übernommen haben. Sie kommen zu mir ins Coaching mit dem Anliegen, die Arbeitsatmosphäre zu verbessern.

Während sie mir gemeinsam ihr Geschäft, ihre Branche und die Historie des Unternehmens schildern, bekomme ich den Eindruck, dass beide sehr stolz sind auf das, was ihr Vater geschaffen hat. Im Raum ist eine freudige Erregung und ich habe das Gefühl, dass beide sich freuen, diese Arbeit fortzuführen. Ich komme auf ihr Anliegen zu sprechen und richte mich an Dirk, der mit mir den Coachingtermin vereinbart hatte und schon im Telefonat die schlechte Arbeitsatmosphäre ansprach.

Dirk spricht sehr gefasst und ich spüre, dass er seinem Ärger lieber laut Luft machen würde. Er klagt über seinen älteren Bruder Jens und beschreibt dessen Aktivismus und Hektik: „Ich begreife einfach nicht, welchen Sinn und Zweck es hat, wenn er Arbeiten an sich reißt, die eigentlich nicht sein Job sind. So kann man einfach nicht arbeiten…“

Jens ist sehr aufmerksam und geht sofort in eine Verteidigungshaltung: „Oh Mann, bevor hier nichts passiert, mach ich es eben.“ Ich frage nach: „Was genau heißt, dass bei Ihnen nichts passiert? Gibt es Beispiele?“. Jens schildert sehr aufgebracht eine Situation mit einem Kunden am Telefon. Der Kunde beklagt sich, dass er auf mehrmalige Anfragen bei Dirk, der für die Organisation und Abwicklung der Aufträge zuständig ist, bislang noch keinen Ausführungstermin genannt bekommen hat. Daraufhin nennt Jens ihm einen Termin.

Dirk wird etwas lauter und fällt ihm ins Wort: „Ja genau das ist es, was ich meine! Unser Zulieferer hatte einen Engpass, ich konnte dem Kunden noch keinen Termin nennen. Das wusste der auch. Wieso musst Du dann einfach dazwischen grätschen?“.

Jens verteidigt sich weiter: „Aber der Kunde war so begeistert von dem Schrank, den ich für ihn gestaltet habe. Wenn er so lange warten muss und immer wieder nachfragen muss, dann wunder dich doch nicht, wenn er dann unzufrieden ist und am Ende nicht alles bezahlt. Der kann doch nicht ewig warten. Dann muss man eben mal spontan handeln….“.

So geht es noch eine kleine Weile weiter. Dirk ist anklagend und bemängelt Jens schlechte Organisation, Jens verteidigt sich und wirft seinerseits seinem Bruder vor, er würde sich nicht für die Kundenbelange interessieren.

Ich unterbreche die Situation und befrage sie nach ihren momentanen Gefühlen. Jens sagt, er sei genervt von Dirks Anklagen und fühle sich wie ein Schuljunge, der nicht weiß, wie es geht. Dirks Emotionen sind verhaltener, er fühlt sich „wie immer“ und hat kein Verständnis für Jens Verhalten.

Ich frage sie nach der organisatorischen Aufgabenteilung im Unternehmen, die sie mir dann beschreiben. Dirk ist für die interne Organisation und Auftragsabwicklung, Jens für die Akquisition und Angebotserstellung zuständig. Aus dieser Funktion heraus nimmt er auch während der Ausführungsphase den überwiegenden Kundenkontakt wahr. Hier zeigt sich die erste Unklarheit in der Aufgabenzuordnung auf der rein sachlichen Ebene.

Auf der persönlichen Ebene gewinne ich den Eindruck, dass beide Brüder auf sehr unterschiedliche Arten an ihre Aufgaben herangehen. Dirk erklärt sehr klar strukturiert seine Abläufe und Terminplanungen. Jens ist sehr weitschweifend mit seinen Schilderungen, er benutzt einen üppigen Wortschatz, malt mir den Schrank für den Kunden sogar verbal aus.

Ich beschreibe meinen Endruck. Dirk stimmt mir zu und schmunzelt ein wenig: „Na das ist ja auch klar, Jens ist ja auch der kreativere von uns beiden. Schon immer gewesen. Als wir noch klein waren….“.

Und jetzt ändert sich die Stimmung. Sie schildern Erlebnisse, in denen Jens der mit den ausgeflippten Ideen war und Dirk der mit dem aufgeräumten Zimmer und den klaren Zielen für die Zukunft. Es wird gelacht.

Ich biete ihnen an, eine Übung zu machen, den gemalten Dialog. Sie erhalten den Auftrag, auf einem gemeinsamen Blatt Papier mit jeweils einer Farbe ein Bild zu malen, ohne dabei miteinander zu sprechen.

Im Malprozess wird es deutlich: Dirk gibt die Struktur vor (z.B. wo oben und unten ist), Jens ergänzt mit kreativen Symbolen. In der anschließenden von mir durch Fragen geleiteten Reflexion des Prozesses tritt es noch klarer zutage: Beide haben sehr unterschiedliche Stärken und erheblich voneinander abweichende Herangehensweisen an ihre Aufgaben.

Wir beschließen unsere erste zweistündige Sitzung, indem Jens und Dirk das Ziel für den nachfolgenden Coachingprozess konkretisieren: Wir wollen unsere Stärken herausarbeiten, diese gegenseitig anerkennen und im Unternehmen durch eine neue und konkretere Aufgabenzuteilung zum Einsatz bringen.

Im Abschluss frage ich sie wieder nach ihren momentanen Gefühlen. Dirk ist zufrieden. Er findet es gut, dass die beiden Brüder so unterschiedlich sind und dass dies so deutlich zu erkennen ist. Jens ist überrascht über den Ausgang der Sitzung. Er fühlt sich nun gar nicht mehr in Verteidigungsposition. Vielmehr freut er sich, dass er mit seiner Art wohl doch etwas zum Gelingen des Unternehmens beitragen kann.

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